Kolumne von Beate Luber
Sie sehen ungefähr so zerstört aus wie die Burgruine Flossenbürg, sind aber knapp 1000 Jahre jünger. Graue Stelen mit Online-Infos übersäen den Oberpfälzer Wald. Sie wurden gefeiert als neuester Tourismus-Coup. Heute wirken sie eher wie morbide Landart-Skulpturen. Eine Reise zur Ästhetik des Verfalls in der Oberpfalz. Und ein Plädoyer für mehr öffentliche Kunst.

Zwei Stahlträger eingelassen in einen eingeritzten grauen Block stehen mitten im Stadtpark von Weiden. Wie reagiert da wohl der touristische Tagesausflügler? Ein kosmopolitischer Tourist mit Liebe zu Skurrilität denkt sich: “Cool, dadaistische Hieroglyphen eingelassen in massive Fragilität. Erinnert formalästhetisch an die beuyssche soziale Plastik.” Andere schreien: “A so a greislichs Ding. Des schaugt ja aus wie Fuxikraxi auf a dreckerten Klowand. Pfuideifel.”
Morbide “Points of Interest”
Intendiert war weder die Assoziation eines postmodernen Kunstwerks noch die einer Klowand. Die grauen Stelen sind Teil des Projekts “Natürlich unterwegs am Goldsteig – mein Natur-Navi durch den Oberpfälzer Wald”. Es gibt eine Internetseite zum Natur-Navi mit digitalen Wanderkarten, Hochglanzbildern und echt ganz guten Tourentipps – und eben die grauen Stelen oder “Points of Interest”, wie sie in der Projektbeschreibung genannt werden. 100 von ihnen stehen in den Landkreisen Tirschenreuth, Schwandorf, Neustadt und in der Stadt Weiden. Auf den Stelen ist oben eine Tafel, auf der überall dasselbe Bild drauf ist, der Name der Sehenswürdigkeit und ein QR-Code. Wer den scannt, bekommt Infos und Audios über den Ort. Eigentlich eine ganz gute Idee. Das dachte sich auch das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz und förderte das Projekt mit 70.000 Euro. 40.000 Euro steuerten die Landkreise dazu.

Soweit so gut. Das Problem ist, dass die Stelen an den meisten Orten dermaßen durchgeranzt sind. Denn selbst mit einem einfachen Stöckchen ist es superleicht, da etwas einzuritzen. Das verführt so manche Ausflügler dazu, sich zu verewigen. Etwa mit dem kecken Klassiker: “Ich war hier.” Oder mit dem Symbol ewiger und innigster Liebe: Anfangsbuchstaben des Vornamens und ein + dazwischen. Wie romantisch. Oder einfach mit wildem und freien Rumritzen, aus spontaner Lust an der Bildhauerei.
Landrat: “Bitte nicht beschädigen”
Der Grund für die Stelen-Ritzerei: Es ist so einfach. Denn die Stelen sind aus Schaumglas. Schaumglas wird eingesetzt als Wärmedämmstoff, der sich an sich sehr gut eignet für so ein Projekt. Er ist relativ günstig, wasserdicht, nicht brennbar, schädlingssicher, recycelt aus alten Flaschen. Dazu verströmt Schaumglas noch einen verführerischen Schwefelgeruch, wenn man darauf herumritzt, weil es laut Wikipedia Schwefelwasserstoff enthält. „Bitte nicht beschädigen”, appellierte Schwandorfs Landrat Thomas Ebeling im Herbst 2019. Doch das Gegenteil ist der Fall: Zumindest im Landkreis Neustadt ist “Hinterlandrauschen” keine Stele bekannt, die nicht ein paar Kratzer hat.

Die Pressestelle des Tourismuszentrum Oberpfälzer Wald ist überrascht von dem Ausmaß der Zerstörung. “Mit einer derartigen Intensität an Sachbeschädigung und Vandalismus konnten wir zu Beginn des Projektes nicht rechnen und sind darüber sehr enttäuscht”, schreibt sie auf Anfrage von Hinterlandrauschen.
Manche Stelen seien repariert oder ausgetauscht worden, doch danach wieder zerstört, wie in Weiden. “Hier suchen wir derzeit nach einer Ersatzlösung, die möglichst nicht mehr beschädigt werden kann”, so die Tourismuszentrale. Auf das Recyclingmaterial Schaumglas müsse man dann aber verzichten. Die ganze Aktion wertet die Tourismuszentrale trotzdem als Erfolg. Denn die Natur-Navi-Stelen seien nur ein Teilbereich des Projektes. Der andere ist die Webseite www.oberpfaelzerwald.de/natur-navi/ , die als “Planungsplattform” und Tourenguide dient.

Vandalismus oder Diskurskunst?
Dass das “Vorzeigeprojekt aus dem Bereich Naturtourismus” zu einer öffentlichen Klowand bzw. zur beuysschen Skulptur mutierte, hätten die Macher nicht geahnt. Vandalismus im öffentlichen Raum ist ein diskussionswürdiges Thema. Einerseits sind Bürger durchaus berechtigt dazu, den öffentlichen Raum mitzugestalten. Dies sollte kein Monopol von staatlichen Institutionen sein. Oftmals kommen so Stimmen zu Wort, die öffentlich wenig Beachtung finden, aber wichtig sind im zeitgeschichtlichen Diskurs. Jüngstes Beispiel ist das anonyme Künstler*innen-Kollektiv, das in Nürnberg im Oktober 2020 die Pfeiler der Zeppelintribüne auf dem Reichsparteitagsgelände mit Regenbogenfarben bemalte, ein Zeichen der Bewegung von LGBTQI* (Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Menschen). Nürnberg hat das anonyme Kunstwerk mit dem Titel “Das Regenbogen Präludium” einen Tag später entfernen lassen. Der Schritt wird bis heute kritisiert.
Riesige Schaumglasblöcke für alle
Gut. Die Natur-Navi-Stelen sind nicht die Zeppelinbühne, und die schaumglasritzenden Tagestouristen kein Künstler*innen-Kollektiv. Aber immerhin spricht aus dem vermeintlichen Vandalismus eine Sehnsucht nach künstlerischen Ausdrucksweisen, die die Tourismuszentrale nicht bieten kann. Warum also nicht einfach einen neuen Begriff der Kunst im öffentlichen Raum entwickeln, der die Grenze zwischen Rezipient*in und Produzent*in ganz aufhebt. Warum nicht den beuysschen Gedanken zu Ende denken und alle Menschen zu Künstlern machen? Nicht weniger Schaumglasskulpturen, sondern mehr und größere! Riesengroße Schaumglasblöcke, an denen sich die Menschen austoben und selbstverwirklichen können.
Dass das ganz gut klappt, zeigen die interessanten Skulpturen, die gerade überall aus dem Schnee erwachsen.


Jeder Mensch ist ein Künstler im Hinterland.